Berliner PPV: 02 Zwangsbehandlung nach Betreuungsrecht
[Ich hebe von jetzt an alle wichtigen Punkte, die wir beim späteren Erstellen der Berliner PPV unbedingt beachten müssen, farblich hervor.]
Es gibt zwei Rechtsgrundlagen, unter der eine Zwangsbehandlung in der Psychiatrie stattfinden kann: Das Betreuungsrecht und die PsychKGs der Bundesländer.
Wir beginnen zunächst mit dem Betreuungsrecht, da es bundesweit einheitlich ist und die Patientenverfügung dort auch ihren Ursprung hat. Ich zitieren den §1901a BGB, der die Patientenverfügung definiert, hier noch einmal und diesmal im Ganzen:
§ 1901a
Patientenverfügung
(1) Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.
(2) Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.
(4) Der Betreuer soll den Betreuten in geeigneten Fällen auf die Möglichkeit einer Patientenverfügung hinweisen und ihn auf dessen Wunsch bei der Errichtung einer Patientenverfügung unterstützen.
(5) Niemand kann zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet werden. Die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung darf nicht zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden.
(6) Die Absätze 1 bis 3 gelten für Bevollmächtigte entsprechend.
Ignorieren wir zunächst Absatz (6), der überall im Betreuungsrecht gilt, Absatz (5), der eingefügt wurde, um die Krankenkassen daran zu hindern, Leute nur zu versichern, wenn sie sich verpflichten, kein Pflegefall zu werden und Absatz (4), der in der Praxis eher ein frommer Wunsch ist.
Absatz (2) ist für unser Projekt hier zwar auch nicht interessant, aber allgemein aufschlussreich. Er bekräftigt – bezogen auf die Psychiatrie – die generelle Linie des Bundesverfassungsgerichts, dass eigentlich vor einer Zwangsbehandlung Biografiearbeit geleistet werden müsste, um zu ermitteln, ob sich das angehende Opfer tatsächlich eine Behandlung gewünscht hätte. Wer sich in der Psychiatrielandschaft etwas auskennt, weiß, dass das klassische Opfer psychiatrischer Gewalt die Schizophrene ist, die immer wieder zwangseingewiesen und zwangsbehandelt wird, und nach der Entlassung immer wieder die Neuroleptika absetzt, da ihr das Leben mit diesen nicht lebenswert erscheint, woraufhin sich das Spiel dann wiederholt. Gerade diese Leute wären eigentlich rechtlich vor einer Zwangsbehandlung geschützt, wenn sie sich auch im symptomfreien gegen Neuroleptika entscheiden. Leider Gottes sind Recht haben und Recht bekommen zwei verschiedene Dinge und die Rechtslage ist bei den unteren Gerichten noch nicht angekommen. Es handelt sich dabei ja leider auch um die Sorte Leute, die am Wenigsten Berufung einlegen.
Nein, für unser Projekt sind die Absätze (1) und (3) relevant.
Absatz (3) ist wie bereits erwähnt, was es uns ermöglicht, die ursprünglich für das Lebensende gedachte Patientenverfügung für psychische Krankheiten zu verwenden.
Absatz (1) regelt die Patientenverfügung abschließend, weshalb wir ihn uns genauer ansehen müssen
Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt,…
Das ist das Grundprinzip der Patientenverfügung. Wir legen im einwilligungsfähigen Zustand Dinge für den Fall unserer Einwilligungsunfähigkeit fest. Eine Einwilligungsunfähigkeit muss immer gegeben oder unterstellt werden, wenn Zwangsmaßnahmen gegen uns erwogen werden, da sie sonst aus verfassungsmäßigen Gründen nicht zulässig wären.
Hier steht auch die erste wesentliche Einschränkung des Gesetzes, eine Patientenverfügung kann nur von einer Volljährigen verfasst werden. Das ist Pech für die vielen, die nach §1631b BGB in die KJP zwangseingewiesen werden. Es gibt übrigens durchaus auch bei der Unterbringung in der KJP Mittel und Wege, diese zu sabotieren und sich frei zu kämpfen, aber das verschiebe ich erstmal auf einen eventuellen späteren Post.
Eine Patientenverfügung ist auch nur gültig, wenn sie schriftlich abgefasst ist, einfache Erklärungen reichen nicht aus (obwohl diese auch nach Absatz (2) rechtswirksam sein können. Das heißt nicht, das sie, wie ein Testament, handschriftlich abgefasst werden muss, eine Unterschrift genügt.
…ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung),…
Hier ist der Geltungsbereich einer PV: Untersuchungen, Heilbehandlungen oder andere ärztliche Eingriffe. Man kann diesen ausdrücklich sowohl zustimmen, als auch ablehnen. Sie dürfen nicht unmittelbar bevorstehen, denn sonst könnte man diese Entscheidung ja direkt treffen.
…prüft der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen.
Und hier ist ein ganz wichtiger Fallstrick. Die PV muss hinreichend konkret sein, um Bindungswirkung zu entfalten. Das ist ein Problem sowohl für psychiatrische, als auch somatische PVs, für letztere ist es fast noch schlimmer. Der Bundesgerichtshof hat kürzlich sehr viele derzeitige Patientenverfügungen in einem Urteil wegen mangelnder Konkretheit in Frage gestellt1.
Für unsere Problematik ist zu bedenken, dass psychiatrische Diagnosen oft besonders schwammig und durchlässig sind. Wir müssen darauf achten, dass wir beispielsweise nicht Zwangsmaßnahmen wegen einer schizoaffektiven Psychose ausschließen, nur um sie dann für komorbide Schizophrenie und Depression zu erhalten (aus Borderline kann man PTBS machen, aus bipolar eine Depression u.v.A.m.).
Das ist eine Sache, von der ich sagen muss, dass sie die PatVerfü richtig macht. Sie nutzt die ICD10-Codes um großflächig und konkret alle psychiatrischen Diagnosen abzudecken2. Diese Herangehensweise werden wir uns für die Berliner PPV borgen.
Ein anderer sehr relevanter Aspekt an dieser Stelle ist, dass sich die Patientenverfügung ursprünglich ausschließlich an die Betreuerin gerichtet hat. Die weitere Gesetzgebung hat dies, wie wir in kommenden Posts sehen werden, seit 2009 stark relativiert, aber anfänglich handelte es sich bei der PV um die Möglichkeit, die Betreuerin an den eigenen Willen zu binden (normalerweise müssen sich Betreuerinnen juristisch zuerst am Wohl der Betreuten orientieren, was zu sehr viel Schindluder und Bevormundung geführt hat).
Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen.
Der entscheidende Punkt. Hat Geltung zu verschaffen, nicht kann und auch nicht hat, solange das den Betreuten nicht gefährdet. Eine gültige PV gilt unbedingt, selbst wenn sie zu einer schweren Selbstschädigung führt. Denkt daran, juristisch gesehen ist ein Aufenthalt auf der Geschlossenen, egal wie nutzlos im konkreten Fall, ja eine Hilfe und ein Verzicht auf diesen, wenn er von der Psychiatrie als notwendig erachtet wird, eine solche Selbstschädigung.
Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.
Völlig klar bei der somatischen PV, eine gefährliche Landmine bei der psychiatrischen.
Ihr müsst bedenken, dass viele Entwürfe somatischer Patientenverfügungen, die zwischenzeitlich um Umlauf waren, einfach nur absurd übertriebene Anweisungen enthielten, wie z. B. “Im Fall von Demenz lehne ich lebenserhaltende Maßnahmen, wie Flüssigkeitsgabe und Ernährung ab”. Es ist davon auszugehen, dass so ziemlich alle Leute, die sowas unterschrieben haben, in ein paar Jahren oder Jahrzehnten zu dem Schluss kommen werden: “Wartet mal, nur weil ich ständig meinen Schlüsselbund verlege, heißt das nicht, dass ich bei lebendigem Leibe verdursten will!!!” Glücklicherweise gilt dies dann auch.
Bei einer psychiatrischen PV ist zu bedenken, dass wir, in dem Moment, in dem Zwangsmaßnahmen in Frage kommen, juristisch notwendigerweise als einwilligungsunfähig gelten, auch wenn wir uns unter Umständen nicht so fühlen. Weiterhin ist es umstritten, ob man eine PV auch im einwilligungsunfähigen Zustand widerrufen kann, da es sich um einen sogenannten actus contrarius (lateinisch: “gegenläufige Handlung”) handelt, an den in der Regel juristisch die gleichen Anforderungen, wie an die ursprüngliche Handlung, hier also die Einwilligungsfähigkeit, geknüpft sind 3.
Stell dir folgendes Szenario vor:
Du hast eine regelmäßig wiederkehrende floride Psychose. 95% der besten Abenteuer in deinem Leben hast du während einer solchen erlebt, deswegen willst du diese Phasen unbedingt auskosten. Du hast dementsprechend eine PPV, die eine Zwangsbehandlung ausschließt. Jetzt wirst du aber nicht jünger und dein nächster Schub ist heftiger, als Alles, was du bisher erlebt hast. Es ist nicht mehr schön, sondern nur noch absolut beängstigend. Du rennst zur nächsten Klinik und bettelst um Olanzapin. Man kennt dich dort aber schon und weiß um deine PPV. Die diensthabende Ärztin, vielleicht, weil sie rachsüchtig ob deiner vorherige Renitenz ist, vielleicht, weil sie nur übervorsichtig gegen Rechtsstreite ist, kommt dir mit: “Es tut mir Leid, Frau X, aber Sie sind jetzt ganz klar nicht einwilligungsfähig.”
Das wäre offensichtlich nicht im Sinn des Erfinders. Gegen ein solches Szenario müssen wir klar vorsorgen.
Aber das wäre dann auch die Zwangsbehandlung nach Betreuungsrecht. Wenn wir also auf ein paar Punkte acht geben, können wir ganz klar jegliche Zwangsbehandlung nach Betreuungsrecht durch eine PPV ausschließen.
- Az XII ZB 61/16
- “…irgendeine der Diagnosen, die im International Statistical Classification of Diseases
(aktuell ICD 10. Revision, German Modification) im Kapitel V mit den Bezeichnungen von F00 fortlaufend bis F99 als „Psychische
und Verhaltensstörungen“ bezeichnet werden, zu stellen, und um jede mögliche Unklarheit zu beseitigen, führe ich diese noch
genauer aus als:
F00-F09 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen
F10-F19 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
F20-F29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
F30-F39 Affektive Störungen
F40-F48 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
F50-F59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
F60-F69 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
F70-F79 Intelligenzstörung
F80-F89 Entwicklungsstörungen
F90-F98 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
F99 Nicht näher bezeichnete psychische Störungen
jeweils mit allen weiteren Unterspezifizierungen und alle später vorgenommenen Modifizierungen dieses Kapitels des ICD.” Absolut perfekt! - Henking Tanja; Bruns, Henrike: Die Patientenverfügung in der Psychiatrie. In: GesundheitsRecht (13)10, 2014.